Claas Relotius – nicht mein Fall…
Oder doch?

Als ich von einem Mitglied „meines“ Vereins, der Initiative gegen die Todesstrafe e.V., eine E-Mail bekomme, deren Inhalt „Fake news at its worst – lies das mal“ lautet, ist weder dem Absender der Mail noch mir selbst bewusst, dass tatsächlich alles noch viel schlimmer ist – bis ich den Titel des verlinkten SPIEGEL-Artikels entdecke: Der Fall Claas Relotius: SPIEGEL legt Betrug im eigenen Haus offen. Fassungslos lese ich die nicht enden wollenden Enthüllungen einer der renommiertesten Wochenzeitungen unseres Landes und bin einfach nur sprachlos. Mein Vereinsmitglied hat mir die Mail mit dem Link geschickt, weil sich unter den erwähnten zahlreichen Fälschungen des Claas Relotius ein Artikel über die Todesstrafe befindet – was bei mir diese immense Betroffenheit auslöst, kann unser Mitglied gar nicht ahnen…

Claas Relotius hat seine Reportage Die letzte Zeuginüber eine Frau, die angeblich in den USA als Zeugin von einer Hinrichtung zur nächsten reist, im März 2018 im SPIEGEL veröffentlicht. Damals ist der Artikel an mir vorbeigegangen. Erst Wochen später erzählt mir eine Kollegin davon und besorgt mir im Juni schließlich eine Fotokopie der gedruckten Ausgabe, die ich mit ungläubigem Staunen lese. Seit über 20 Jahren engagiere ich mich gegen die Todesstrafe, bin in all den Jahren zu einer Expertin geworden auf dem Gebiet, schwerpunktmäßig für die Todesstrafe in Texas und den USA, habe zahlreiche Kontakte zu Häftlingen gehabt und dreimal einen Brieffreund auf seinem letzten Weg begleitet, habe also selbst drei Hinrichtungen in Texas mit eigenen Augen als Zeugin gesehen. Das letzte Mal, im Jahr 2014, berichteten sowohl SPIEGEL ONLINE als auch SPIEGEL TV darüber.

„Die letzte Zeugin“ wirft zahlreiche Fragen in mir auf. Zum einen ist die Geschichte als solche selbst für amerikanische Verhältnisse schon kaum glaublich, zum anderen enthält sie viele Details, besonders als der Ablauf der Hinrichtung geschildert wird, die mit meinen eigenen Erfahrungen nicht übereinstimmen. Weil bei den Fotokopien die letzte Seite fehlt, mich der Artikel jedoch nicht mehr loslässt, besorge ich mir online das betreffende Heft als pdf-Datei und erhalte auf diesem Weg auch Zugang zu einer Online-Version.

Doch erst im Juli während meiner Urlaubszeit finde ich die Muße, mich in stundenlanger Kleinarbeit intensiv mit dem Artikel auseinanderzusetzen. Ich kopiere den Text in eine Word-Datei und markiere in verschiedenen Farben alle Passagen, die mir definitiv falsch, unwahrscheinlich oder zumindest fragwürdig erscheinen, und füge entsprechende Kommentare an. Über meine eigenen Erfahrungen und mein eigenes Wissen hinaus recherchiere ich etliche Sachverhalte. Gleich zu Beginn des Textes stolpere ich darüber, was die Protagonistin der Geschichte, die nach Aussage des Artikels erst seit einem guten Jahr zu Hinrichtungen durchs Land reist, bei einer Hinrichtung in Arizona erlebt haben will – ist doch in Arizona seit 2014 niemand mehr exekutiert worden! Auch die restlichen Schilderungen der Erlebnisse der Frau in den Hinrichtungskammern anderer Bundesstaaten erscheinen unglaubwürdig – so werden angeblich von ihr erlebte Begebenheiten aus Virginia erwähnt, die man in ähnlicher Form in Online-Berichten von 2009 findet, und die Zeugenschaft in Virginia setzt voraus, dass man seinen Wohnsitz in dem Staat hat. Die Protagonistin kommt jedoch aus Missouri, wie Relotius beschreibt.

Während ich diese Aspekte selbst recherchieren musste, springen mir andere, die sich auf mein Spezialgebiet der Todesstrafe in Texas beziehen, direkt als falsch ins Auge: Relotius spricht von der ersten Hinrichtung in Texas im Jahr 1924 und in dem Zusammenhang von Erschießen. Texas hat im Jahr 1924 das erste Mal den elektrischen Stuhl verwendet – es gab schon lange Exekutionen, und zwar wurden die Todesurteile vorher durch Erhängen vollstreckt. Auf dem elektrischen Stuhl, der heute im Museum steht, könnten Touristen, so Relotius, für Selfies sitzen. Ich bin schätzungsweise ein Dutzend Mal in dem Museum in Huntsville gewesen – der Besucher hat keinen Zutritt zu „Old Sparky“, der sich in einer Nachbildung des Hinrichtungsraumes hinter einer Absperrung befindet. Auch ist von Selfies auf dem elektrischen Stuhl weder etwas auf der Website des Gefängnismuseums zu lesen, noch findet sich ein einziges Foto eines Museumsbesuchers auf dem texanischen elektrischen Stuhl irgendwo im Internet – die Bildersuche müsste hier doch etwas zu Tage fördern, wenn das wirklich erlaubt wäre…

Aber auch scheinbar unwichtige Kleinigkeiten stimmen nicht. So soll die Uhr an dem Gefängnis in Huntsville schon vor Jahrzehnten stehen geblieben sein, doch bis mindestens 2014, als ich zuletzt dort war, ging sie einwandfrei. Bei der Beschreibung der Zeugenräume ist links und rechts vertauscht; von sich öffnenden und schließenden Vorhängen ist die Rede, was ich nie so erlebt habe. Denn die Zeugen werden, anders als Relotius es beschreibt, erst eingelassen, wenn alles fertig vorbereitet ist: Witnesses to the execution shall be brought into the appropriate viewing area ONLY AFTER the Saline IV has been started and is running properly…Überhaupt frage ich mich, wo der Autor die ganzen Details hernimmt, wenn er selbst bei der Hinrichtung gar nicht anwesend war und seine Protagonistin schließlich auch nicht durch Wände und geschlossene Türen in andere Gänge und Räume blicken kann.

Rund 40 Textstellen habe ich in dem Artikel am Ende markiert und kommentiert. Dazu noch sechs von acht Bildunterschriften der in der Online-Ausgabe beigefügten Fotostrecke, die ganz klar inhaltliche Fehler aufweisen. Teilweise habe ich den Eindruck, dass tatsächlich Geschehenes an manchen Stellen für die Geschichte Pate stand. So wurde im Frühjahr 2017, als Arkansas acht Todesurteile in nicht einmal zwei Wochen vollstrecken wollte, für eben diesen US-Bundesstaat bekannt, dass man nach Zeugen suche, weil laut Gesetz in Arkansas eine bestimmte Anzahl neutraler Zeugen bei jeder Exekution erforderlich sei. Von anderen Staaten hatte ich dergleichen noch nie gehört, auch wenn Arkansas wohl tatsächlich nicht der einzige ist – Relotius hat dies offenbar fantasievoll auf viele Staaten der USA ausgeweitet. Dass Arkansas auf der Suche nach Zeugen bei einem Rotary Club angefragt hatte, mag dazu geführt haben, dass Relotius dies als Einladungen an Kirchen und Countryclubs nach Alabama verlegte. Von einem Ehepaar und weiteren Bürgern aus Virginia, die sich dort schon wiederholt als neutrale Zeugen zur Verfügung gestellt haben, erzählt ein Bericht der BBC News ebenfalls im Frühjahr 2017, als Arkansas nach Zeugen sucht. Hat dies Claas Relotius dazu inspiriert, seine Protagonistin zu erfinden, die von Missouri aus angeblich durch die ganzen Staaten reist, von einer Hinrichtung zur nächsten? Der Artikel schildert konkret die Hinrichtung von Anthony Shore in Texas im Januar 2018. Gerade von Texas, wo ich mich am besten auskenne, ist mir eine solche Regelung, dass neutrale Zeugen nötig seien, nicht bekannt: The media spots in the viewing room are the only way members of the public who aren’t related to the murder victim or the condemned inmate can obtain independent observations of the controversial procedure. Und warum sollte dafür dann jemand aus Missouri kommen müssen? Würde sich da wirklich niemand aus dem texanischen Staat mit seiner Cowboy-Mentalität finden, der für mehr als ein Drittel aller Hinrichtungen in den USA verantwortlich ist?

In der Summe kommt mir die ganze Geschichte erfunden vor – zu unrealistisch aufgrund der vielen Ungereimtheiten. Und doch bin ich so hin- und hergerissen, was ich davon halten soll – immerhin steht die Story im SPIEGEL und nicht in einem drittklassigen Revolverblatt der Boulevard-Medien. Ein Foto des Autors, das ihn vor dem Gefängnis in Huntsville zeigt, in dem die Todesurteile von Texas vollstreckt werden, habe ich auch gesehen – ich erinnere mich noch, dass ich bei seinem Anblick dachte: Dann muss er ja doch zumindest dagewesen sein! (Eine Fotomontage zu unterstellen, so weit wollte ich gar nicht gehen…)

Im Grunde ist es meine innere Zerrissenheit, die Geschichte einerseits nicht glauben zu können und andererseits dem SPIEGEL eine solche Fälschung nicht zuzutrauen, die mich dazu treibt, die Wahrheit herausfinden zu wollen – nicht darüber, ob der Autor ein Betrüger ist, sondern über die inhaltlichen Aspekte. Dass ich an dieser Stelle einen entscheidenden Fehler machen würde, konnte ich damals nicht ahnen. Ich schreibe Claas Relotius per E-Mail an, stelle mich vor, schildere meinen Eindruck von seinem Artikel, sende meine kommentierte Version im Anhang mit und erkläre, mit ihm darüber ins Gespräch kommen zu wollen. Obgleich er mir bis dahin gänzlich unbekannt ist – ich habe noch nichts von ihm als Starreporter und von seinen zahlreichen Journalismus-Preisen gehört –, geht es mir nicht darum, ihn anzugreifen, sondern die Wahrheit hinter dem Artikel finden zu wollen.

Eine Antwort von Claas Relotius lässt nicht lange auf sich warten – schon am nächsten Tag habe ich eine E-Mail von ihm in meinem Postfach. Zunächst fällt mir positiv auf, dass er meine zahlreichen kritischen Anmerkungen offenbar nicht persönlich nimmt – auch wenn diese immer sachlich waren, könnte man sie in der Fülle und Deutlichkeit dennoch als Angriff deuten und zum Gegenangriff übergehen. Nein, nichts davon. Er scheint eher dankbar zu sein für meine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik und mich in meiner Kompetenz ernst zu nehmen. Es sei sein erster Artikel zu dem Thema, das ihn nach wie vor interessiere, zu dem er persönlich allerdings immer noch mehr Fragen als Antworten habe.

Zum Umgang des SPIEGEL mit den Quellen erklärt Relotius allgemein, dass alle Ergebnisse von Recherchen durch Notizen, Akten, Fotos, Tonaufzeichnungen dokumentiert würden. Zitat: „Die Reportage ist also selbstverständlich nicht erfunden, auch nicht Aspekte davon, sondern nach bestem Wissen und Gewissen aufgeschrieben. In diesem Fall musste ich nach der Recherche sogar einige Passagen den Leuten in Huntsville vorlegen, zur Abnahme. Dadurch konnten, für mich als Autor immer sehr beruhigend, noch einige Ungenauigkeiten, missverstandene Details oder glasklare Faktenfehler ausgeräumt und korrigiert werden.“ Das Ärgerliche, so Relotius, sei nun, dass offenbar durch Änderungen auf dem Portal von SPIEGEL ONLINE die alte Textfassung mit einigen Fehlern dort zu finden sei. Er spricht von Relaunch und altem SPIEGEL Plus und neuem SPIEGEL + und das klingt alles nicht unlogisch. Warum hat es mich nicht wirklich stutzig gemacht, dass ich doch ursprünglich die Printversion (bis auf den Schluss des Artikels) und auch die pdf-Datei davon und nicht nur die Online-Version hatte, ohne dass es da auch nur einen Unterschied gibt?

Im Augenblick befinde er sich in den USA – auf weitere Details würde er gerne ausführlicher eingehen, wenn er zurück in Hamburg sei. Ich bin zunächst zufrieden, dass er die Intention meiner Mail nicht als Konfrontation ansieht, weil ich in der Tat das Gespräch suche – ich möchte die Wahrheit herausfinden, gerne auch dazulernen – schließlich weiß ich trotz 20-jähriger Erfahrung auch nicht alles zu dem Thema: Dass neben Arkansas zumindest Virginia ebenfalls neutrale Zeugen verlangt, war mir zuvor ja auch nicht bekannt. Genau diese Haltung – nicht auf Konfrontation aus zu sein – erweist sich im Nachhinein als Fehler. Ganz offensichtlich bin ich doch zu blauäugig gewesen…

Jedenfalls: Wir verabreden uns zu einem Telefonat über weitere Details seiner Geschichte und meiner Kritik. Ich erinnere mich gar nicht mehr an viele inhaltliche Aspekte unseres ersten Gesprächs, obwohl wir rund eine Stunde lang geredet haben. Er habe seine Protagonistin tatsächlich von Missouri aus begleitet und was die Ungereimtheiten ihrer Schilderungen betrifft – sie habe es so erzählt. Ich erinnere mich daran, dass es ein sehr angenehmes Gespräch war, in dem wir uns über die Todesstrafe in Texas und den USA ausgetauscht haben. Weil er einen Termin habe – was ich heute noch für glaubwürdig halte –, müssen wir das Gespräch schließlich unterbrechen, verbleiben aber so, dass wir es zeitnah fortsetzen wollen. Zu der Fortsetzung kommt es zwar erst zwei Wochen später, aber Relotius kommt von sich aus wieder auf mich zu. Ich habe aus meinen kritischen Anfragen vor allem noch zwei oder drei offen, die mir besonders wichtig sind und die ich besprechen möchte, zu denen ich auch nochmals weitergehend recherchiert habe in der Zwischenzeit.

Da ist zum einen die Sache mit den Selfies auf dem elektrischen Stuhl. Seine Erklärung klingt durchaus plausibel. Das sei in der Tat nicht für die normalen Touristen. Aber im Museum habe er ein Foto hängen sehen von einem Sponsor oder einem, der sich jedenfalls um das Museum verdient gemacht habe, der sich dafür auf dem elektrischen Stuhl habe fotografieren lassen dürfen.

Dann ist da der Satz in seinem Artikel – wobei ich nicht mehr weiß, ob wir über den im ersten oder zweiten Telefonat gesprochen haben: „Ein paar Me­ter hin­ter ihr ge­hen die Beam­ten, die Shore hin­rich­ten wer­den. Sie tra­gen wei­ße Um­hän­ge und Ka­pu­zen, die ihre Ge­sich­ter ver­de­cken.“ Entsetzt hatte ich dazu kommentiert, dass das doch nicht der Ku-Klux-Klan sei; und die ausführenden Beamten müssten zu dem Zeitpunkt längst in dem Raum sein, von dem aus die Exekution gesteuert wird. Relotius erklärt mir, er habe diese Männer selbst gesehen. Anders als ich es mir vorgestellt habe, sei das aber nicht draußen vor dem Gefängnis gewesen, sondern im Innenhof auf dem Weg zu den Zeugenräumen, und man habe ihm dort auf seine Frage erklärt, das seien diejenigen, die die Hinrichtung durchführen. Ich bin an dieser Stelle nun über den Umstand überrascht, dass er überhaupt in das Gefängnis hineingekommen sein will – wer kein Zeuge ist, kommt üblicherweise gar nicht in das Gebäude und auf das Gelände, doch er habe seine Protagonistin erst auf dem Weg zum Zeugenraum verlassen müssen. Weshalb habe ich selbst die vermummten Gestalten dann nicht gesehen? Naja, sie müssen nach Relotius‘ Schilderung schließlich hinter mir gewesen sein…

Eine Frage, die mich umtreibt, ist schließlich noch die, inwieweit Computer oder Maschinen bei der Exekution verwendet werden. Ich bin immer davon ausgegangen, dass Texas die Chemikalien manuell verabreicht. Relotius schreibt in seinem Artikel jedoch: „Dort, hin­ter ei­ner ver­spie­gel­ten Fens­ter­schei­be, sit­zen zwei Be­am­te an ei­nem Com­pu­ter. Sie war­ten auf das Zei­chen, um den Knopf für die In­jek­ti­on zu drü­cken. Wer von ih­nen drückt, wer­den sie nie­man­dem ver­ra­ten.“ Das kommt mir wie aus dem Film „Dead Man Walking“ abgeschaut vor. Relotius erklärt, das sei ihm von der Gefängnisbehörde so gesagt worden. Mich würde der genaue Wortlaut interessieren, zumal ein Computer ja eine Maschine steuern müsste bzw. eine Maschine, die es in den 80er Jahren tatsächlich gab, noch nicht mit einem modernen Computer gesteuert wurde. Ich berichte, was ich recherchieren konnte: Dass Texas vor Jahrzehnten wohl wirklich mal eine solche Maschine angeschafft hat, es aber unklar sei, ob sie benutzt wurde, dass zumindest Anfang des neuen Jahrtausends Exekutionen in den USA überwiegend manuell durchgeführt wurden… Relotius bietet mir keinen Nachweis für das an, was die Gefängnisbehörde ihm genau mitgeteilt hat in diesem Punkt, keine Mail, keine Tonaufzeichnung – mir fällt nicht auf, dass dies im Grunde im Widerspruch steht zu seiner ersten Mail an mich, dass alles akribisch dokumentiert und archiviert werde. Ich bin immer noch zu sehr an der Sache interessiert als daran, Relotius irgendwelche Fehler nachzuweisen, sonst hätte ich den Widerspruch vielleicht bemerkt.

So muss ich im Grunde in der Summe feststellen: Es ist ihm gelungen, meine anfänglichen Bedenken, es handele sich um eine erfundene Geschichte, zu zerstreuen. Ich bin blauäugig genug gewesen, Claas Relotius auf den Leim zu gehen. Auch ohne Aufklärung aller Details, habe ich ihm geglaubt. Weil er glaubwürdig wirkte, weil er für den SPIEGEL schrieb – weil ich es nicht darauf angelegt hatte, ihm Fehler und Fälschungen nachzuweisen, sondern selbst dazulernen und verstehen wollte.

Das zweite Telefonat dauert mindestens so lange wie das erste. Wir vereinbaren in Verbindung zu bleiben. Ich will versuchen, die Sache mit der Hinrichtungsmaschine versus manuelle Hinrichtung weiter zu klären, schicke ihm aber nach dem Telefongespräch, wie versprochen, auf jeden Fall noch die Ergebnisse meiner bisherigen Recherche dazu sowie ein Foto von dem elektrischen Stuhl im Museum, auf dem die Absperrung davor zu sehen ist und zu dem erklärt wird, dass das Ausstellungsstück alarmgesichert sei. Ich verspreche ihm weiterhin, mich zu melden, wenn meine Pläne für eine nächste Texas-Reise Gestalt annehmen werden, da er Interesse zeigt, mich eventuell begleiten zu wollen.

Ende Oktober schreibe ich ihm noch einmal eine E-Mail: Ich habe in dem aktuellen Buch von Michelle Lyons, die zunächst als Reporterin der lokalen Tageszeitung von Huntsville und später als Sprecherin der texanischen Gefängnisbehörde fast 300 Hinrichtungen als Zeugin begleitet hat, eine klare Antwort auf die Frage „manuell oder maschinell“ gefunden: „There isn’t a machine that pushes the syringe, it’s done by hand. It’s not like a firing squad, where nobody knows who shot the fatal bullet. I saw who administered the drugs, but very few people ever do…“ Auf diese Mail antwortet Relotius nicht. Ich denke mir nichts dabei; schließlich dürfte er ein vielbeschäftigter Mensch sein.

Als ich kurz vor Weihnachten die Enthüllungen des SPIEGEL lese und die diversen nachfolgenden Artikel darüber geradezu verschlinge, stelle ich fest, dass die Art und Weise, wie Relotius und seine Methoden beschrieben werden, exzellent zu meinen Erfahrungen passen. Wobei ich nicht so recht weiß, worüber ich mehr betroffen bin: über seine dreisten und gleichzeitig irgendwie auch genialen Betrügereien oder darüber, dass ich mich von ihm habe derart einwickeln und blenden lassen.

Wenn ich seinen Artikel zusammen mit meinen ganzen Kommentaren heute nochmals lese – mit dem Hintergrundwissen, wie akribisch genau der SPIEGEL selbst sogar mit scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten umzugehen sich zum Ziel gesetzt hat –, dann verstehe ich nicht mehr, weshalb ich nicht bei meiner anfänglichen Skepsis geblieben bin. Mein erster Eindruck, dass es sich bei dem Artikel „Die letzte Zeugin“ um eine erfundene Geschichte handeln dürfte, war ja offenbar goldrichtig – und in einem anderen Medium als dem SPIEGEL hätte ich sie genau so einfach als Fiktion abgetan.

Ich bedaure, dass ich – aus heutiger Sicht – den Fehler gemacht habe, nicht allgemein die SPIEGEL-Redaktion zu kontaktieren oder sie wenigstens auf Kopie zu setzen. Ich wollte fair sein, Claas Relotius nicht einfach beim SPIEGEL anschwärzen oder mich über ihn beschweren, suchte stattdessen mit ihm direkt den Kontakt. Hätte ich nur im Entferntesten für möglich gehalten, was nun über ihn und seine Arbeitsweise enthüllt wurde, ich hätte gerne die Redaktion des SPIEGEL darauf hingewiesen und damit vielleicht geholfen, schon etwas früher Zweifel in seine Arbeit zu säen.

Bei aller Betroffenheit und persönlichen Enttäuschung stelle ich fest: Gelernt habe ich dennoch, denn ich habe einige Aspekte – z.B. wer konkret wo zu Hinrichtungen zugelassen ist, speziell auch in Texas [S. 31] – in mühevoller Kleinarbeit tiefergehend recherchiert als jemals zuvor. Gelernt habe ich auch über mich selbst: dass ich zu vertrauensvoll war, zu unkritisch angesichts der vielen Ungereimtheiten. Nächstes Mal sollte ich meinem eigenen Urteil mehr trauen, bei Unklarheiten dranbleiben und nachhaken. Dennoch hoffe ich, diese Erfahrung macht aus mir nicht einen schlechteren Menschen, der seinen Mitmenschen zukünftig nur noch mit einem Generalverdacht und jeder Menge Misstrauen begegnet.

Gabi Uhl
26. Dezember 2018